Was werden Sie von mir sagen, teurer Bruder, dass ich so lange Zeit versäumt habe, Ihnen zu schreiben? Sie werden ohne Zweifel glauben, dass ich im Vergnügen schwimme, und dass ich nicht an Sie denke. Weit entfernt davon, habe ich niemals soviel [Zeit ]damit verbracht wie gegenwärtig. Ein Zeichen dessen ist, dass ich Ihnen geschrieben habe und dass ich unglücklicherweise, als ich ein Papier zerreißen wollte, meinen Brief zerrissen habe. Ich habe nicht [einmal ]Zeit zum Atmen; es sind immer Leute da, vom Morgen bis zum Abend, und da diese Leute ganz und gar nicht liebenswürdig sind, langweile ich mich sehr. Die Frauen sind alles andere als schön; die einen sind stumm, die anderen pflegen ein erstaunliches Geplapper, das ganz benommen macht. Man spricht nur vom Aufputz[ Herrichten], man redet seinem Nächsten übel nach und dann ist das Gespräch beendet. Die Männer taugen ein wenig mehr; aber alle zusammen sind keineswegs eine [richtige ]Gesellschaft für mich. Nur die Duchesse de Crillon und Milady Inverness, eine nahe Verwandte des Marschalls Keith, sind liebenswürdig. Sie erscheinen mir in Ihrem letzten Brief nicht zufrieden, und Sie scheinen mir mein Schicksal zu neiden. Ach, teurer Bruder, ich werde Ihnen eine Fabel zu diesem Thema erzählen, die Sie bereits ohne Zweifel kennen: Die Sterblichen stritten sich, ein jeder in dem Glauben, dass seine Übel diejenigen der anderen überstiegen. Um sie zufriedenzustellen, befahl Jupiter, dass ein jeder Mensch die Last seiner Leiden zu einer gewissen vorgeschriebenen Zeit tragen solle. Als diese Anweisung ausgeführt worden war, ließ er alle Pakete wiegen, und sie stellten sich als gleich schwer heraus. Ich versichere Ihnen, dass das meinige recht umfangreich ist; das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Antworten Sie mir keinesfalls auf dieses alles, und reden Sie nicht darüber, was ich Ihnen von hier mitteile, denn man könnte es weiter verbreiten. Die Menschen hier sind klatschsüchtig, es ist eben nur Landadel. Nur Monsieur de Perousi, Leutnant der Musketiere, ist liebenswürdig; er hat den Rang eines Generalleutnants. Die Frauen hängen an der Flasche und machen kein Geheimnis daraus. Sie haben zwei oder drei Liebhaber, die verpflichtet sind, sie zu unterhalten. Und man sagt, dass es äußerst gefährlich ist, sich mit den Frauen einzulassen. Alle Welt begegnet mir mit unendlichen Höflichkeiten und Aufmerksamkeiten. Ich werde hier behandelt, wie es der Dauphine gebühren würde. Es gibt in dieser Stadt nichts zu sehen, außer einigen Grabmälern Wenn Wilhelmine die Grabmale 1754 besucht haben sollte, so hätte sie das Grabmal Papst Johannes XII. noch an seinem ursprünglichen Platz, in der Mitte der St. Joseph-Kapelle, erlebt. Im März 1759 wurde das Mausoleum abgetragen und versetzt. Während der Französischen Revolution wurde auch dieses Grabmal zu großen Teilen zerstört. {Cfr.: #119 Steinmann, 1918: Bd. 11, Nr. 6, 45–171, hier: S. 154–158.} von Päpsten Päpste in Avignon. Einige sind in Villeneuve-lés-Avignon begraben. und dem der schönen Laura, der Geliebten Petrarcas In Notre-Dame du Miracle, Kirche des Minoritenklosters. Das Grabmal wurde während der Revolution zerstört.. Aber ich gestehe Ihnen, dass ich die Toten nicht liebe, und ich habe nicht den Geschmack des Herzogs von Merseburg. Das ist alles, was ich Ihnen für heute melden kann. Ich bitte Sie nochmals, nicht davon zu sprechen. Adieu, teurer Bruder, ich bin ganz die Ihrige.