Ich hatte vor, Ihnen unmittelbar bei meiner Ankunft in Venedig zu schreiben, aber ich habe die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Wir sind krank geworden, der Markgraf und ich, als wir aus Bologna abreisten, und waren genötigt, uns einige Tage in Francolini bei Ferrara aufzuhalten. {Im Reisebericht, #60 Tagebuch, 2002: 89, hält Wilhelmine fest, dass sie u. ihr Gemahl wegen einer Fieberepisode beim „Marchese Cervelli [...], einem getauften Juden“, in Francolino, nahe Ferrara Aufenthalt hatten.} Das Markgrafenpaar logierte vermutlich im am Flussufer des Po gelegenen „Casino di Campangna“ von Fortunato Cervelli (ca. 1683–1755 Ferrara, eigentlich: Giuda Rieti oder: Rietti, der den Namen (für sich u. seine Familie) seines Taufpaten Alessandro Cervelli annahm. Cervelli 1710–11 Verwalter u. Generalprokurator, später Steuerverwalter und 1737 zum Baron ernannt, gelangte durch sein geschicktes Manövrieren zwischen den politischen u. Handelsinteressen von Habsburg sowie verschiedener ital. Städten zu einem beträchtlichen Wohlstand. Dieser erlaubte es ihm, sich auch kulturell zu engagieren. {Weiterführend zu Cervellis Biographie, cfr.: #318 Caracciolo, 1980 mit ausführlicher Bibliographie.} Er bekam einen Fieberanfall, der 36 Stunden gedauert hat, und ich eine beginnende Ruhr. Wir sind beide äußerst zerschlagen in Venedig angekommen, von wo ich wieder abgereist bin, ohne das Geringste gesehen zu haben – mit Ausnahme einiger Gemälde. Dort habe ich Algarotti vorgefunden, den ich kaum wiedererkannt habe, so sehr ist er gealtert und verändert. Seine Gesundheit ist noch immer äußerst zerrüttet, aber sein Geist lässt davon überhaupt nichts verspüren. Er hat sich für uns sehr viel Mühe gegeben und mir versichert, dass er nur seine Genesung abwarten würde, um nach Berlin zurückzukehren. Ich wünsche ihm mehr Gutes denn je, aufgrund der Verbundenheit, die er für Sie zu haben bekundet, mein lieber Bruder, und [aufgrund ]des Eifers, den er bei allen Gelegenheiten zeigte. Er drohte mir, Sie von meinen Eskapaden in Kenntnis zu setzen. Somit ist es mir lieber, ihm zuvor zu kommen, aus Furcht, dass sie doch Konsequenzen nach sich ziehen könnten. Ich habe in Venedig einen der berühmtesten Cicisbei [galanter Begleiter] {Siehe auch: #159 Brief vom 13. Juli 1755.} erworben, der mir seine Liebe wie ein Romanheld erwies: Erklärungen, Liebesbriefchen, Verse und Lieder – es fehlte an nichts. Ich bin viel schöner als Helena. Meine Tochter ist die Blume und ich die Frucht. Die Frucht übertrifft die Blume aus tausend Ursachen, und so weiter. Denn es ist so viel, dass es einen ganzen Band füllen würde. Schließlich, mein lieber Bruder, – von den Entführungen abgesehen – hätte ich die Rolle von Kleopatra oder Statira Anspielung auf die Figur wohl in einer Oper. Es könnte die Oper „Statira“ (1705, Uraufführung: Teatro San Cassiano, Venedig) von Francesco Gasparini (1661–1727) gemeint sein. (Musik: F. Gasparini, Libretto: Apostolo Zeno und Pietro Parat). spielen können. Aber es schien mir, dass es zu schwierig auszuhalten wäre, denn mein Verehrer hat mich am Ende ebenso sehr gelangweilt, wie er mich zu Beginn ergötzte. Man muss ihn Ihnen gleichwohl zu erkennen geben: Es ist Ihr Botschafter Monsieur Cattaneo, sechzigjährig, der sich, wie ich denke, wegen seiner poetischen und musikalischen Kompositionen in alle Frauen verliebt glaubt, die er sieht. Ich habe die Ehrerbietungen der Republik [Venedig ]am Tag vor meiner Abreise empfangen und sah einige Damen {Laut #60 Tagebuch, 2002: 90, handelte es sich um die Damen Morosini, Labia, Grimani und Giustiniani.}, die mir äußerst hochnäsig und ziemlich schlecht erzogen erschienen. Die Herren Emo und Erizzo haben Berlin sehr gerühmt und viel Verbundenheit für Sie gezeigt. Ich bin indessen in zwei Konservatorien gewesen. In Venedig gab es vier große Ospedali, Einrichtungen zur Armenfürsorge und Krankenpflege, das Ospedale della Pietà, das Ospedale degl’Incurabili, das Ospedale di Santa Maria dei Derelitti und das Ospedale di San Lazzaro dei Mendicanti. Seit dem 17. Jh. waren diese vier Krankenhäuser Zentren des Musiklebens der Stadt, in denen Instrumentalistinnen und Sängerinnen ausgebildet wurden. {Aus ihrem Reisebericht #60 Tagebuch, 2002: 90, geht hervor, dass Wilhelmine am 20. Juli ein Konzert im Konservatorium „Mendicanti“ u. am 21. Juli eines im Konservatorium „Incarabile“ [degli Incurabili] besuchte.} Ich habe die Paduanella gehört, die eine göttliche Stimme hat, aber ohne die geringste Ausbildung, die Theresa, die beinahe 50 Jahre alt ist und eine noch schönere Stimme hat, als sie die Gasparini jemals gehabt hat, aber weniger stark. Ihre Kehle ist wie die der Astrua, aber sie ist viel stärker in der Musik. Als Frau bevorzuge ich sie vor allen, die ich jemals gehört habe. Die Cattina hat auch eine der schönen Stimmen, die man anhören kann, und sie singt mit sehr viel Geschmack. Das Unglück ist, dass man nicht einmal mit Millionen dazu käme, sie von dort fortzulocken. Die Emilia und Bettina, die so viel Aufsehen erregt haben, sind absolut nichts wert. Ich reise übermorgen von hier ab. Ich werde eine traurige Zeit verbringen, da ich nicht die Freude haben kann, Ihnen unterwegs zu schreiben. Mein Herz und meine Gedanken werden immer bei dem lieben Bruder sein, indem ich mit aller erdenklichen Zuneigung und Hochachtung bin,