Perspectivia

(Sanssouci, den 7. Juli 1755

Meine teuerste Schwester.
Ich habe heute die Freude gehabt, einen Brief zu empfangen, den Sie mir das Vergnügen machten, aus Neapel zu schreiben, vom 3. des vergangenen Monats[ Juni 1755]. Ich war äußerst erstaunt über die Unverschämtheit Seiner sizilianischen Majestät. Es scheint mir, er hätte Sie empfangen und Ihnen Höflichkeiten erweisen sollen, sei es inkognito oder gemäß Ihrem Stand. Es gibt jedoch eine gewisse Schwierigkeit mit Ihrem Inkognito, da Sie weder Privatperson noch Fürstin sind. Man muss sich trotzdem für eines von Beiden entscheiden, und sich an das halten, was man davon für das Vorteilhafteste hält. Andernfalls werden Sie immer in die Unannehmlichkeiten des Zeremoniells fallen. Ich habe mir gut vorstellen können, dass Sie Rom und Florenz den Vorzug vor dem übrigen Italien geben würden. Es bleibt Ihnen noch Venedig zu guter Letzt, womit Sie, glaube ich, zufrieden sein werden. Neapel soll dennoch eine sehr große und schöne Stadt sein. Die Lage am Ufer des Meeres ist großartig. Und in diesen Gegenden hatten die Römer fast alle ihre Lusthäuser, in Pozzuoli, Baiae, Tusculum etc.
Ich glaube, dass diese unterirdischen Stätten, die Sie in Baiae gesehen haben, nicht aus den Zeiten der Republik sind, sondern aus denen der zwölf Cäsaren. In diesen Zeiten des Verbrechens ließen Privatpersonen solche unterirdischen Stätten anlegen, um ihre Freunde und sich selbst der Wut der Tyrannen zu entziehen. Die ersten Christen hielten dort ihre Versammlungen ab, zurzeit von Domitian und ihren Verfolgern. Ich gestehe Ihnen, dass es recht ruhmreich für mich wäre, über die Via Appia Via Appia (Appische Straße), Hauptstraße zwischen Rom und Capua sowie ganz Unteritalien, wurde ca. 312 v. Chr. durch den röm. Zensor Appius Claudius Caecus (um 340 v. Chr.–273 v. Chr.), nach dem die Straße benannt wurde, erbaut. {Vgl. auch Wilhelmines #165 Brief v. 3. Juni 1755 an den König, mit Anm. 1. – Zur Historie der Via Appia, siehe auch weiter: #313 Bohnsack, 1886, #314 La Via Appia, 1908 und #312 La Via Appia, 2002: 9 ff.} geholpert zu sein; und dass es nichts gibt, was ich [nicht ]hergäbe, selbst auf Kosten einer Rippe, um in diesem irdischen Paradies gewesen zu sein. Es ist nicht jedem gegeben, nach Korinth zu reisen Frz. Sprichwort, ursprünglich aus dem Griechischen und bezieht sich auf eine teure oder auch moralisch bedenkliche Reise nach Korinth.[CW]. Sie müssen, meine teure Schwester, mehr als ein Anderer das Vergnügen empfinden, Italien zu sehen; Sie, die Sie die Geschichte so gut kennen und die Sie Geschmack an Altertümern finden. Für jenes spanische und sächsische, nach Neapel verpflanzte Geschlecht sind die Namen der Antike nur hochtrabende Worte und die Denkmäler römischer Größe nur Spielzeug, mit dem sich amüsieren. Sie glauben, sich damit zu zerstreuen, ohne etwas davon zu wissen. Sie kommen mir vor wie ein Mexikaner, dem man mathematische Werkzeuge geben würde. Dieser erbärmliche Schlag von Leuten, die dieses schöne Land bewohnen, Julius Caesar, wenn er auf die Welt wiederkäme, wäre erstaunt, solche Irokesen als Eigentümer seiner Heimat vorzufinden. Sie haben Glück, La Condamine bei sich zu haben. Ich glaube, mit Ausnahme einiger Gelehrter in Florenz, dass seine Spezies in Italienselten ist, wie überall anders auch.
In Wesel habe ich d’Alembert gesehen, der mir ein sehr liebenswerter Kerl zu sein scheint. Er hat viel Sanftmut und Geist, gepaart mit einem profunden Wissen und ist nicht anmaßend. Er versprach, im kommenden Jahr drei Monate bei mir zu verbringen, und dann verhandeln wir vielleicht über eine längere Zeit.
Gegen Ende des Monats werde ich die Königin Witwe hier empfangen. Sie werden sicher wissen, dass meine Schwester aus Braunschweig ihre Älteste [Sophie Caroline Marie ]mit dem Prinzen von Wales verheiraten will. Es wurde verlangt, dass sie ihre Töchter nach Hannover bringt, wo sie die Ehre haben wird, Seine britannische Majestät von Angesicht zu Angesicht zu sehen, eine Ehre, die ich ihr nicht neide.
Leben Sie wohl, meine teure Schwester, ich empfehle mich Ihrer Freundschaft und Ihrer Erinnerung, für Ihre Gesundheit betend und Sie bittend, mich einer vollkommenen Zuneigung zu glauben,

meine teuerste Schwester,
Ihr getreuester Bruder und Diener

Friedrich.)