Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Ich werde jeden Augenblick von hier abreisen, um nach Loreto und Bologna zu fahren. Ich wurde seitens des Papstes mit Höflichkeit und mit Aufmerksamkeiten überhäuft. Trotz des Gezeters der österreichischen Kardinäle hat er öffentlich erklärt, dass er so viel Verbundenheit und Verehrung für den König von Preußen hege, dass er ihm in meiner Person alle Beweise dafür geben wolle, die ihm möglich seien. Er hat ein ganzes Stück von der Mauer der Kirche von Sankt Peter niederreißen lassen, damit ich die Zeremonie des Zelters „Alljährlich am Peter- und Paulstag wurde dem Papste, der am Eingang der Peterskirche auf einem Throne saß, im Namen des Königs von Neapel ein prächtig aufgeschirrter Zelter [ruhiges und bequemes Reitpferd] und eine Börse mit 6000 Dukaten als Tribut überbracht. Auch das Pferd mußte wie alle Gläubigen vor dem Papste niederknien. Bis 1787dauerte diese Zeremonie, wo der Tribut durch einmalige Zahlung von 50000 Dukaten bei der Thronbesteigung jedes Königs von Neapel abgelöst wurde.“ {Zitiert nach:#7 Volz, 1924-1926, hier: Bd. 2, 310 f. mit Anm. 5.} sehen kann; und eine verglaste Tribüne in derselben Kirche bauen[ lassen], damit ich ihn das Pontifikalamt halten sehen kann. Er gab mir den Segen, als er vor dieser Tribüne vorüberging, und als die Feierlichkeit beendet war, nahm er seine Kappe ab. Ich habe nichts Schöneres in meinem Leben gesehen. Es gibt keine Opernausstattung, die diesem Anblick nahekommen könnte. Das Feuerwerk von der Engelsburg ist etwas Einzigartiges. Jenes vom [Palazzo ]Farnese war nicht wirkungsvoll, da der Platz äußerst klein ist. Das ganze Haus Corsini ist mehrere Male zu mir gekommen. Es ist das einzige gute Haus, das es in Rom gibt. Die Edelmänner aus unserem Gefolge gingen gestern zur Audienz des Papstes. Man ließ ihnen ihre Degen, was eine große Auszeichnung ist. Der Papst sprach ihnen nur von Euch, mein teurer Bruder. Er sagte: „Es ist der allergrößte Fürst, der jemals regiert hat, er setzt die anderen Staatsoberhäupter ins Unrecht. Ich liebe und achte ihn, und werde mein ganzes Leben sein Diener und derjenige seines Hauses sein.“ Die Zeremonienmeister waren nicht begeistert von jener Art zu reden und zu handeln, denn es gibt hier nur strenge Umgangsformen, man schläft, man isst, man trinkt gemäß den strengsten zeremoniellen Vorschriften. Dennoch bedauere ich es gar sehr, diesen Aufenthalt zu beenden. Ich traf dort nur gute Gesellschaft, und bildete mich auf eine angenehme Art und Weise in allen Arten der Künste und der Wissenschaften. Überdies genoss ich eine vollkommene Freiheit. Es ist nur das Verlangen, mich Ihnen wieder zu nähern, mein teurer Bruder, das mich nach Deutschland zurückzukehren wünschen lässt. Ich habe überhaupt nur vollkommene Freude für mich, wenn ich bei Ihnen bin. Die anderen Vergnügungen sind nur Zerstreuungen. Ich empfehle mich weiterhin Ihrer teuren Erinnerung und bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin

Wilhelmine

Rom, den 2. Juli 1755.)