Meine teuerste Schwester.
Wir hatten hier die Nachricht von Ihrer Ankunft in Marseille so dass ich ganz überrascht
gewesen bin, aus Ihrem Brief zu ersehen, dass Sie sich noch in Avignon befinden. Ich
bin entzückt, zu vernehmen, dass Sie dort eine angenehme Gesellschaft bilden konnten.
Aber aus allem dem, was mir von Leuten, die in jenem Land gewesen sind, zugetragen
wird, so glaube ich, dass Sie in Marseille besser auf Ihre Kosten kommen werden: bezüglich
der Wetterlage, der Gesellschaft und des ruhigen Lebens, das Sie lieben. Ich wünsche
mir folglich, dass Sie sich alsbald dorthin begäben, in Anbetracht der Ruhe des Geistes
als Ihr bestes Heilmittel. Wir sind hier am Ende unseres Karnevals, wofür ich – unter
uns gesagt – dem Himmel Dank sage. Sie hatten dieses Jahr in Dresden die Oper „Ezio“,
deren Aufführung sie mit ungeheuren Ausgaben bestritten haben. Die Komparserie bestand
aus 620 Personen. {Friedrich II. hatte mit seiner Schilderung nicht übertrieben, die „Ausstattung der
Oper überbot Alles, was man bis dahin gesehen hatte“, zitiert nach: #144 Fürstenau,
1862: 282–285.} Es bedurfte allein für den Triumphzug des Ezio zweier Kompanien Grenadiere des Regiments
von Brühl, mit ihren Offizieren nach römischer Art verkleidet, und zweier Schwadronen
leichte Reiterei des Regiments von Rutowsky ebenfalls. Ganz zu schweigen von 20 Dromedaren,
4 Maultieren und 4 Wagen, beladen mit den Hinterlassenschaften der Feinde Sachsens;
überdies des Wagens des Triumphators, bespannt mit 4 weißen Pferden, die ihn nebeneinander
ziehen. Diese Oper macht Gerede in ganz Deutschland, und man spricht davon wie von
einem Wunder. Was mich betrifft, so gestehe ich Ihnen, dass ich eine wahrhaftige Armee
auf der Bühne keineswegs liebe und dass ich trotz der Übereinstimmungen, die sich
zwischen den Herren Sopranen und den Maultieren finden, ich ihre Stimmen zu disharmonisch
finde, um sie gemeinsam in ein und demselben Schauspiel aufzustellen. Man sieht an
diesen sächsischen Schauspielen, dass diese Leute wollen, dass man zu ihren Augen
spricht und nicht zu ihrem Herzen. Eine einzige anrührende Szene ist der ganzen Buntscheckigkeit
ihrer triumphalen Festumzüge vorzuziehen. Unglücklich jene, die niemals das Vergnügen
gekannt haben, Tränen zu vergießen. Ich glaube, meine teure Schwester, dass wir uns
in unserem Geschmack ziemlich einig sind, und dass Sie ungefähr derselben Meinung
sind. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass die milde Luft der Provence und des
Languedoc Ihre Gesundheit gänzlich wiederherstellt und dass die Altertümer, die gute
Gesellschaft und das angenehme Klima jenes Landes den alten Bruder nicht aus Ihrem
Gedächtnis auslöschen, der aus Pflicht und aus Neigung mit einer vollkommenen Zuneigung
ist,