endlich, mein teurer Bruder, hat die Strenge der Jahreszeit abgenommen. Die aufgetaute Rhône hat mir einen Ihrer teuren Briefe verschafft. Der hat mir als wohltuender Balsam gedient, um mich wieder zu beleben. Denn in der Tat beginne ich zu fürchten, dass ich, ohne es verdient zu haben, das Schicksal der Frau von Loth haben würde und mich als Standbild aus Eis wiederfinden würde. Ein neues Wunder, dass Sie vollbracht haben. Trotz diesem und denen, die Sie alle Tage vollbringen, begreife ich doch, dass Sie niemals die Eigenschaft eines Heiligen erlangen werden. Ich, die ich hier in Papimanien Der Begriff «Papimanie» geht zurück auf François Rabelais‘ «L‘Îsle des Papimanes», die Insel der Papsteiferer. Sie stellt im phantastischen Universum der Riesen «Gargantua» und «Pantagruel» das Gegenstück zur «L‘Îsle des Papefigues» („Insel der Papstverächter“) dar, {cfr.: #86 Rabelais, 1994, hier: Kap. XLVIII–LIIII: 649–667.} Wilhelmine spielt hier zweifellos auf die Zeit des Avignonesischen Papsttums (1309–1377 bzw. 1417) an. [CW] bin, versichere Ihnen, dass mich das Flair der Heiligkeit keineswegs heilt, und dass ich nicht Gefahr laufe, selig gesprochen zu werden. Indessen führe ich eine Menge Konversionen durch. Doch ist es weder zum Paradiese Calvins, noch zu jenem Luthers. Ich habe endlich einen guten Apostel gefunden, mit dem ich ganze Tage verbringe. Seine Lehre ist hervorragend, und ich bin überzeugt, würden Sie ihn kennen, würde er die Ehre haben, zu ihren kleinen Gesellschaften zugelassen zu werden. Es ist der berühmte de La Condamine, der in Jerusalem gewesen ist, in Konstantinopel und in Peru. Es ist ein lebenslustiger Mann, freundlich und reizend in Gesellschaft. Er hat nur einen Fehler, der Mühe macht, denn er ist schwerhörig; was die Brust jener zugrunde richtet, welche sich mit ihm unterhalten. Er hat mir sehr interessante Details von seinen Reisen erzählt. Der Dauphin ist sehr krank gewesen. Der Duc de Bourgogne ist es noch immer, was alle Welt beunruhigt. Mit vielen Männern bewaffnet man eine Reihe von Kriegsschiffen in Brest. Das lässt darauf schließen, dass man plant, irgendeine Expedition nach Amerika zu unternehmen. Die Angelegenheiten mit dem König, den Bischöfen und dem Parlament werden immer hitziger. Ich unterrichte Sie über diese Dinge nur im Vorbeigehen, denn Sie werden ohne Zweifel die Einzelheiten darüber wissen. All das gefällt mir nicht. Es scheint, dass aus Mangel eines Baumeisters das Gebäude kurz davor ist, einzustürzen. Die Verfolgungen wider die Protestanten währen fort. Ich bin immer der Meinung, dass ein Dritter diese unter der Hand antreibt und sie mit Waffen versorgt. Obwohl man ein Geheimnis daraus machte, weiß man, dass sie sich entgegen den Verordnungen versammeln, bis zu einer Anzahl von 20000, von Kopf bis Fuß bewaffnet. Der Duc de Richelieu geht damit als weiser und verständiger Mann um. Er mindert die Härte der Erlasse soviel er kann, und versucht, die Unglückseligen mit Versprechungen und guten Worten zu besänftigen. Der Verwalter von Montpellier, einstmals Liebhaber der Poisson [Madame de Pompadour], ist Grund dieser ganzen Unordnung. Der Sohn von Jean-Emmanuel Guignard de Saint-Priest, Francois-Emmanuel (1735–1821), berichtet in seinen Memoiren von seiner Bekanntschaft mit dem König und Madame Pompadour 1750 als Mitglied der Garde du Corps. Er hielt sich bis 1752 in Versailles auf. Sein Onkel ist der Kardinal Tencin (1679–1758). Im Sommer 1755 kehrte er nach Versailles zurück. {Cfr.: #190 Saint-Priest, 1929: 8, 21.} Er hat es auf das Amt abgesehen und hat geglaubt, dorthin zu gelangen, indem er den Eiferer für seinen Glauben spielt und sich dadurch die Gunst des Klerus zuzieht. {Zu den Schwierigkeiten des Amtes im Languedoc und der Amtsführung von Saint-Priest siehe: #34 Histoire générale de Languedoc, 1872: 1106–1136.} Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, mein teuerster Bruder, dass der Papst Jansenist Der Jansenismus war eine nach dem flämisch-niederländischen Theologen und Bischof Cornelius Jansen (1585–1638) benannte innerkatholische Oppositionsbewegung in Frankreich und den Niederlanden im 17. und 18. Jahrhundert, die sich auf sein 1640 posthum veröffentlichtes Buch über Augustinus (354–430) berief. Die Jansenisten wenden sich gegen die in ihren Augen laxe Moraltheologie und Zurschaustellung des Glaubens der Jesuiten und proklamieren ein einfaches und strenges Leben. {Dazu: #85 Franzen, 2000 – wobei dessen Schilderung aus anti-jansenistischer Sicht erfolgt.} {Siehe auch: #139 Schäfer, 2015.} [CW/reh] ist, dass er insbesondere das Betragen der Bischöfe missbilligt, und dass er sich keineswegs in deren Zwiste einmischen will. Das ganze Königreich ist gegen sie, aber man wagt es nicht, sich offen zu erklären. Ist es möglich, dass man sich untereinander soweit zerfetzen könnte, wegen ein bisschen Mehl, gemischt mit Wasser und ein wenig Wein, bis man ein ganzes Königreich in Unordnung versetzt. Das ist eine ziemliche Schande für den menschlichen Verstand. Mir wäre ein Krieg, der zwischen zwei indischen Königen wegen eines weißen Elefanten stattfände, ebenso lieb. Ich empfehle mich wiederum Ihrem kostbaren Angedenken und bin mit aller Hochachtung und erdenklicher Zuneigung,