Meine teuerste Schwester
Ich habe das Vergnügen gehabt, einen Brief datiert aus Avignon von Ihnen zu empfangen.
Ich bin erstaunt, meine teure Schwester, dass Sie dort unter der Kälte leiden sollten.
Es ist ein recht mildes Klima, das obendrein vom Papst gesegnet ist. Ich bin äußerst
erstaunt über alles, was Sie mir in Ihrem Brief sagen. Man sieht indessen überall,
je größer ein Staat ist, desto weniger kann er im Einzelnen gut verwaltet werden.
Das alte Sprichwort ist hinreichend wahr, welches besagt, dass die Welt von Missbräuchen
bewegt wird. Wie ist es möglich, dass die Regierung, welche sich in Versailles befindet,
in Kenntnis gesetzt würde, von dem ganzen Raubbau der Steuerpächter, welche das gemeine
Volk aussaugen? Wie kann sie [die Regierung ]so vielen Missbräuchen abhelfen, wenn jene, die sie untersuchen sollten, weder vor
Korruption gefeit noch unbescholten sind? Eine der Quellen der Übel, die Sie in Frankreich
bemerken, ist unbestritten das Ansehen, das einem die Reichtümer in diesem Land verschaffen
Man legt Wert auf jene, die wohlhabend sind, die große Ausgaben machen, und niemand
erkundigt sich, mit welcher Schändlichkeit sie sich diese Reichtümer angeeignet haben.
Daher rührt das Verlangen, sich zu bereichern, die Missachtung der Ehre, der Tugend
und die gänzliche Verderbnis der Sitten. Ich sage nicht, dass ich die ganze Nation
der Laster der Hauptstadt bezichtige. Und man könnte von den unbestechlichen Leuten
sagen, was Boileau von den keuschen Frauen Friedrich II. bezieht sich in seiner Betrachtung auf Boileaus Satire X: «Et que mesme
aujourd’hui sur ce fameux modelle, / On peut trouver encor quelque Femmes fidelle.
/ Sans doute; & dans Paris, si je sçay bien compter, / Il en est jusqu’à trois, que
je pourrois citer.» {Der König besaß in seiner Bibliothek u. a. eine zweibändige Ausgabe
der Werke Boileaus von 1740, nach der hier zitiert wird: #126 Boileau, 1740, Bd.
1: 99, Vv. 41–44.} Die Exemplare aus der Privatbibliothek Friedrichs II. (Schloss
Charlottenburg und Schloss Breslau) gehören zu den Kriegsverlusten der SPSG (Signatur:
Ch 39 u. Br 87a). [CW/reh] sagt, aber diese kleine Anzahl von tugendhaften Menschen genügt nicht, um das Schlechte
zu beheben, das sich über lange Jahre in der inneren Verwaltung der Regierung festgesetzt
hat; um diese Unordnung zu beheben, bedürfte es sehr viel mehr Entschiedenheit. Man
müsste gegen die Schuldigen durchgreifen, und vor allem in allen Ständen das Verdienst
den Reichtümern und der Abkunft vorziehen. Die Franzosen machen sich über mich lustig,
wenn sie mich loben, oder haben einige Nachsicht wegen der Güte, mit der Sie mich
ehren. Mein Talent reicht nicht aus, um eine so umfangreiche Aufgabe zu bewältigen,
wie jene, der es bedürfte, um die Missbräuche in diesem Königreich abzustellen. Ich
habe hier viele Angelegenheiten am Halse, mit denen ich mich mühevoll herumplage,
ohne dass ich ein so ausgedehntes Königreich zu regieren haben wollte. Schließlich
sofern ich vernähme, meine teure Schwester, dass Sie sich wohl befinden, wird mir
dies die allerangenehmste Nachricht sein, die ich aus Frankreich empfangen könnte.
Ich wünsche aus meinem ganzen Herzen, dass Sie dort angenehm Ihre Zeit verbringen
mögen, dass Sie dort das neue Jahr gut beginnen und dass Sie niemals einen Bruder
vergessen, der immer mit der zärtlichsten Freundschaft sein wird,