Perspectivia

([o. O. ][Potsdam ]den 17.[ ohne Monats-noch Jahresangabe ][Mai 1755]

Meine teuerste Schwester.
Ich hatte die Freude, Ihren aus Florenz datierten Brief zu empfangen. Darin sehe ich, meine teure Schwester, viele schöne Kirchen, schöne Grabmäler und schöne Altertümer. Aber ich gestehe Ihnen, dass ich ganz bekümmert bin, darin nicht die einzige Sache zu finden, die ich suche: Die Wiederherstellung Ihrer Gesundheit. Ich glaube, dass maßvolle Bewegungen Ihnen sehr heilsam sein können. Aber ich fürchte, dass die Mühen einer langen Reise Sie zu sehr anstrengen. Sie werden Italien als eine alte Kokette vorfinden, die sich für ebenso schön hält, wie sie es in ihrer Jugend gewesen ist, und die noch immer anhand einiger Überreste schöner Züge darauf schließen lässt, was sie einstmals gewesen ist. Die Spuren der römischen Größe, die nach so vielen Jahrhunderten noch vorhanden sind, die berühmten Reichtümer, welche die frömmlerischen Betrügereien dem Aberglauben des barbarischen Europas abpressten, eine Stadt, die durch ihre Eroberungen zur Hauptstadt der heidnischen Welt und durch ihre geschickten Ränke zur Hauptstadt der christlichen Welt wurde. Das ist in etwa das, was Sie in Italien vorfinden können. Wenn Sie dem die Meisterwerke der einstmals unter Augustus und unter Leo X. blühenden Künste hinzufügen; und für die Gegenwart die Herren Soprane, schlechte Komponisten, erbärmliche Maler, noch erbärmlichere Bildhauer, den Papst, einst Souverän, der Schlosskaplan der Könige «L’aumoniér des Rois» – Bezeichnung für den der Hofkapelle zugeordneten Kleriker. geworden ist, schwache Kleinstaaten; sehr viel Raffinesse, Geist, aber keine Genialität; ein Volk, gemacht, um die Sklavenfessel des erstbesten Besatzers zu tragen; ein göttliches Klima, schlechte Gesellschaft; sehr viele Reichtümer im Besitz der Geizigen, Mönche und Priester aller Arten; sehr viel Glaubenseifer, keine Religion; sehr viel Unwissenheit und sehr viel Voreingenommenheit. Mit einem Wort: Die heutige Welt ist für Italien nicht mehr vergleichbar mit derjenigen von Caesar oder Augustus. Und wenn man sie mit jener von Leo X. vergleicht, ist es wie mit einer schlechten Stiftzeichnung nach einem schönen Gemälde von Guido. Ich hoffe sehr, meine teure Schwester, dass Sie meinen Brief nicht den Personen zeigen werden, die Sie gegenwärtig umgeben. Dies hieße nicht, den Herren Ultramontaniern Ein zunächst neutraler Begriff, der im Laufe des 18. Jahrhunderts eine negative Konnotation erhält und sich auf katholische Frömmler und Papisten bezieht. [CW] meine Reverenz erweisen, die nichts Eigenes an den ihnen verbliebenen Denkmälern der Größe haben, und wie die Bettler sind, die, wie das Sprichwort sagt, viel eitler sind als die Reichen. Ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung für mein dreistes Geschwätz. Vielleicht bin ich wie der Fuchs, der die Trauben Anspielung auf die Fabel „Der Fuchs und die Trauben“, die dem antiken Fabeldichter Aisopos (lat.: Aesopus) zugeschrieben wird. Inwieweit die Person des Dichters historisch gewesen ist, lässt sich nicht ausmachen. Der französische Dichter und Schriftsteller Jean de La Fontaine(1621–1695) adaptierte für seine zwischen 1665 u. 1667 entstandenen Fabeldichtungen u. a. auch diese antike Quelle. «Le Renard et les Raisins» gehörte 1668 zur ersten Ausgabe seiner ironischen Lehrfabeln. {Der König besaß in seiner Privatbibliothek sowohl eine Ausgabe der Aisopos-Fabeln in französischer Übersetzung #396 als auch verschiedene Auflagen der Werke von #392 La Fontaine, 1746.} [GB/reh] sauer fand, weil er davon nicht essen konnte; oder jener Galeerensträfling, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, auf seiner Galeere zu rudern, und mit Geringschätzung die Menschen betrachtete, die sich ihrer Freiheit erfreuten. Ich bitte Sie, vergessen Sie nicht die theodisken Tudesques = veraltetes Wort für „altdeutsch“ oder „deutsch“, geht zurück auf „theodisce“, daher auch ital. „tedesco“, was wohl der Grund für Friedrichs Wortwahl gewesen sein dürfte. [FW/CW] Bewohner an den Gestaden der Ostsee. Und möge Ihnen das schöne Klima Italiens keinerlei Widerwillen gegen den Raureif Ihres heimatlichen Klimas eingeben. Ich bin mit der allervollkommensten Zuneigung,

meine teuerste Schwester,
Ihr getreuester Bruder und Diener

Friedrich.)