Perspectivia

(Mein teuerster Bruder,

seit meiner Abreise aus Genua war es mir unmöglich, einen Augenblick zu finden, um Ihnen zu schreiben, obwohl ich diese Beschäftigung immer allen anderen vorziehe. Sie wissen es, mein teuerster Bruder, Sie beschäftigen mich immer. Ich betrachte alles andere als eine vorüberziehende Belustigung.
Neptun hörte nicht auf, uns zuwider zu sein. Anstelle von 12 Stunden, haben wir zwei tödliche Tage auf unsere Überfahrt verwendet. Die Herren Genueser besaßen die Höflichkeit, uns von einer Galeere begleiten zu lassen. Ohne diese wären wir Gefahr gelaufen, nach Algier zu gelangen, da [uns ]vor der Küste von Lerici vier Korsarenschiffe kreuzten. Der Hafen dieser kleinen Stadt ist der schönste und größte von Europa: er kann fünf Flotten aufnehmen. Jene von Frankreich, von Spanien und von Genua waren während des letzten Krieges dort. Wir waren von dort nach zwei Tagen in Pisa. Trotz aller Einwände, wurde ich dort um 10 Uhr abends vom Gouverneur und einem Pulk von Damen und Adligen empfangen. Am Tag darauf sah ich die Kirchen. Der Dom ist von einer ungeheuren Größe, aber die Gemälde sind mittelmäßig. Die vier Tore sind Stücke aus Bronze von unschätzbarem Wert. Was auch immer sie darüber sagen, nur eine davon ist antik, und zwar aus der Zeit der Begründung des Christentums, da sie biblische Geschichten darstellt. Sie sagen, sie wurden in der Zeit der Kreuzzüge in Syrien erbeutet, was wahrscheinlich erscheint, denn sie sind nach ägyptischem Geschmack. Der Campo Santo ist einzigartig. Es scheint, dass derjenige, der ihn erbauen ließ, sich den Tod hätte angenehm machen wollen. Es gibt mehrere antike Grabmäler, deren Reliefs größtenteils die Jagd des Meleager darstellen. Man bemerkt allgemein, dass dieser Abschnitt der Geschichte auf den Gräbern dargestellt ist, ohne dass man die Ursache wüsste. Ich habe den berühmten Turm von Pisa gut von innen und außen untersucht. Er ist sehr verblüffend, und neigt sich derartig stark, dass er Angst macht. Sicher ist, dass er sich gesenkt hat, aber man kann nicht verstehen, wie er sich aufrecht halten kann.
Das Baptisterium ist im Innern sehr hübsch. Die Kanzel ist ein Meisterwerk. Sie ist aus weißem Marmor in Relief gearbeitet, und der Grund des Marmors ist durchsichtig. Ich habe auch ein antikes Bad von Nero gesehen und mehrere andere Sachen, die ein zu großes [Eingehen auf ]Einzelheiten erforderten. Von Pisa sind wir in einem Tag hier [in Florenz ]eingetroffen. Ich habe mir heute für den Anfang die Statuengalerie und den kleinen Salon [Tribuna ]angesehen. Wie viele Male habe ich Ihnen, mein teurer Bruder, doch so viele schöne, Ihrer würdige Stücke gewünscht. Ich war in Verzückung beim Anblick so vieler schöner Überbleibsel der Antike. Die schöne Venus ist meines Erachtens jedoch nicht das Allerschönste, was es gibt. Die Hände und die Füße entsprechen nicht der Schönheit des Körpers und des Kopfes. Es gibt da zwei Athleten, die meiner Meinung nach viel überragender sind. Und eine andere riesige Venus, von der man sagt, sie sei von Phidias. Ich wollte die Gemälde überhaupt noch nicht sehen, um meinem Vorstellungsvermögen Zeit zu geben, sich diese prächtigen Statuen gut einzuprägen.
Die Stadt ist sehr groß, aber äußerst hässlich. Die Reise, die ich mache, ist die schönste, die man machen kann, aber so ermüdend, dass ich fast zusammenbreche. Ich habe keine Kopfschmerzen mehr, aber andauernde Koliken, was dazu führt, dass ich mich gerade noch aufrecht halte. Es ist hier ebenso warm, wie in der größten Hitze in Deutschland. Ich empfehle mich weiterhin Ihrem kostbaren Angedenken, und bin mit aller Hochachtung und vorstellbarer Zuneigung,

Mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste, gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Florenz, den 28. April 1755.)