[… ]Vor einigen Tagen habe ich einen Bericht aus Neapel gelesen, von einem Franzosen geschrieben, einem Mann mit Geist und Urteilsvermögen. Er hat die Ruinen gesehen, die noch von Herculaneum zu sehen sind. Man hat jene[ Ruinen], die man entdeckt hatte, fast zugeschüttet. Man hat begonnen, von unten her zu graben, und alles, was Widerstand leistete, einzureißen, so dass man nur durch ein Wunder die Antiken hervorgezogen hat, die soviel Aufsehen erregt haben. Die Statuen, die ganz waren, sind nun alle verstümmelt. Die Fresken sind kaum der Rede wert. Ihre Kompositionen sind schlecht, die Größenverhältnisse verfehlt und die Malerei ist monochrom. Die Nachrichten zu Herkulaneum haben vermutlich ihren Ursprung in dem1754 erschienenen Buch «Observations sur les antiquités de la ville d'Herculanum: avec quelques réflexions sur la peinture & la sculpture des anciens & une courte description de quelques antiquités des environs de Naples» von Charles-Nicolas Cochin d. J. (1715–1790), Graveur, Kunsttheoretiker, und Jérôme-Charles Bellicard (1726–1786), Architekturstudent an der Französischen Akademie in Rom u. einer der frz. Kupferstecher, die u. a. mit Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) in Rom zusammengearbeitet haben. Sie gehörten als Architekturzeichner und Berater zur Entourage von Abel-François Poisson de Vandières (1727–1781), späterer Marquis de Marigny und Bruder von Madame de Pompadour, der von 1749 bis 1751 eine Italienreise im Auftrag des frz. Hofes unternahm. Cochin u. Bellicard hielten sich im November u. Dezember 1750 in Neapel auf und hatten aufgrund der privilegierten Position Marignys Zugang zu den Ausgrabungen in Herculaneum und Portici. In ihrem Buch, das zum ersten Mal Illustrationen zu den Ausgrabungen präsentierte, äußern sie sich u. a. über die ihrer Einschätzung nach mittelmäßigen Zeichnungen: {«En général leur coloris n'a ni finesse, ni beauté, ni variété; les grands clairs y sont d'assez bonne couleur [...]» #14 Observations, 1754: 42–44; und die frühe Veröffentlichung im «Mercure de France» ohne Zeichnungen #267 Cochin, 1751: 171–183.} {Vgl. auch: #26 Kunze, 1993: 41-50, hier: 45 mit Anm. 9 und #272 Gordon, 2007: 37–57, hier: 45 ff.} {Zur Entstehung von Bellicards Skizzenbuch: #37 Gordon, 1990: 49–142.}. Woher die Mordgeschichte stammt, ist bisher nicht zu ermitteln. Was die Nation angeht, sagt er, dass man sie wegen der Unwissenheit und der Plumpheit am besten nur mit jener der Holländer vergleichen kann, doch haben sie noch nicht deren gute Eigenschaften. „Die Meuchelmorde“, sagen die Neapolitaner, „sind bei uns nicht mehr in Mode”. Indes vergeht kein Monat, ohne dass man 80 oder 100 Personen mit durchschnittener Kehle in den Straßen findet. Der Verfasser des Berichtes ist selbst Zeuge eines Vorfalles gewesen, der erschaudern lässt: Zwei Personen, welche man nur verletzt hatte, erregten durch ihre Schreie die Aufmerksamkeit der Wache, die ihnen zu Hilfe eilte. Sie kam zu spät. Nicht allein, dass diese Unglücklichen das Leben verloren hatten, der Mörder hatte ihre Körper außerdem auf barbarische Weise verstümmelt. Beim Herannahen der Wachen flieht er und rettet sich mühelos in ein nahegelegenes Kloster. Dies konnte nicht so schnell vonstattengehen, dass man nicht die Zeit gehabt hätte, ihn als einen der vornehmsten Herren des Hofes zu erkennen. Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, hat er sich zum Priester weihen lassen. Es hat sich seither herausgestellt, dass er 22 Personen eigenhändig niedergemetzelt hat, bei unterschiedlichen Gelegenheiten. Dennoch hegt man ihm gegenüber alle erdenkliche Verehrung. Verzeihen Sie, mein teuerster Bruder, wenn ich so im Detail auf Dinge eingehe, von denen Sie mehr verstehen als ich. Ich möchte Sie erheitern, und in Wahrheit sind die Themen so fruchtlos, dass man nicht weiß, wo welche finden. Jenes, das ich Ihnen gerade berichtet habe, sollte die Abergläubischen widerlegen und kann dem Nachdenken ein weites Feld geben; dergleichen Taten entehren die Menschheit. Man sieht wohl dadurch, dass es nur die Erziehung ist, die uns zu dem macht, was wir sind, und dass es aus uns selbst heraus kaum einen Unterschied zwischen uns und den Raubtieren gibt. [… ]mit aller erdenklichen Hochachtung und liebevoller Zuneigung bin ich,